Ein Haus in Kafarnaum

Foto: © Berthold Werner, Wikipedia

Das Leben Jesu ist entscheidend mit drei Orten verbunden: er wurde in Bethlehem geboren, er wuchs in Nazareth auf, und er starb in Jerusalem. Die Geburtsgeschichte ist wahrscheinlich eine Legende, also erfunden, die beiden anderen Orte kann man als historisch gesichert betrachten. Jesus kam aus Nazareth, und ging nach Jerusalem. Dazwischen predigte er und wirkte Wunder, in erster Linie in seiner Heimat Galiläa. Gemeinhin stellt man sich das so vor, dass er und seine Jünger dabei ohne festen Wohnsitz waren, so sagt er es ja auch selbst in einem berühmten Wort: Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester, der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann. (Mt 8,20) Gerd Theißen hat für diese Lebensweise den Begriff Wanderradikalismus geprägt: Jesus und seine Anhänger lebten ohne festen Wohnsitz, ohne Besitz, ohne Familie.

Allerdings gibt es Stellen in den Evangelien, die auch in eine andere Richtung weisen. Der in Innsbruck lehrende Neutestamentler Andrew Doole hat sich diese Stellen genauer und im Zusammenhang angesehen, und kommt zu einer prägnanten These: Jesus hatte in den Jahren seines öffentlichen Wirkens nicht nur seinen Lebensmittelpunkt in Kafarnaum am See Genezareth, sondern sogar ein eigenes Haus. Er war also ein Wanderprediger mit Wohnsitz.

Die wesentlichen Befunde für seine Annahme findet Doole im Markus-Evangelium, wo mehrfach davon die Rede ist, dass Jesus en oiko zu finden ist: „Als er nach einigen Tagen wieder nach Kafarnaum hineinging, wurde bekannt, dass er im Hause war.“ (Mk 2,1) Dieses hier ganz selbstverständlich klingende „im Hause“ wirft aber genau die vielen Fragen auf, die Doole sich auch stellt: welches Haus ist gemeint? Vielleicht das Haus des Fischers Simon (des späteren Petrus), den er hier gefunden hat? Oder doch ein Haus, das Jesus als sein eigenes verstand?

Ein paar Zeilen später wird die Berufung des Zöllners Levi erzählt. Der entschließt sich, Jesus nachzufolgen, und man feiert die Vergrößerung der Gruppe durch viele Sünder und Sünder mit einem Gastmahl in „seinem Haus“: sie folgten ihm en te oikia autou. Dieses „autou“ kann sich auf Levi beziehen - oder aber auf Jesus. Beide Varianten sind denkbar. Andrew Doole nennt ein paar sehr gute Gründe dafür, dass man dabei durchaus an ein Haus denken kann, das Jesus gehörte. Über die näheren Umstände dieses Besitzes macht Doole sich keine Gedanken, weil es dafür keine Anhaltspunkte gibt. Ein Aspekt betrifft die Familie von Jesus.

Das Verhältnis war in dieser Phase schwierig, interessant ist aber, dass die Angehörigen ihren lokal schon ziemlich prominenten Sohn zu finden wissen. Sie kommen nach Kafarnaum und suchen ihn auf. Sie scheinen zu wissen, wo er „daheim“ ist. Doole erwähnt auch, dass die geläufige Kombination „Jesus aus Nazareth“ (Name und Herkunft) mehr Sinn macht, wenn er eben nicht mehr in Nazareth lebt, sondern an einem anderen Ort.

Das Faszinierende an dieser Überlegung ist auf jeden Fall, dass man sich das Wirken von Jesus nun noch ein bisschen genauer vorstellen kann: es gab offensichtlich ein Netzwerk nicht nur von Unterstützern (Doole erwähnt auch die wohlhabenden Frauen, die zum Kreis Jesu gehörten), sondern auch von Orten, an denen Jesus sich zugehörig fühlen konnte. Bethanien gehört dazu, in Jerusalem gab es auch Stützpunkte, auf eine geheimnisvolle Weise wohl auch in Emmaus - wobei da wohl für immer unklar bleiben wird, was die beiden Jünger bei ihren Gang „ins Feld“ am Ostersonntag im Sinn hatten.

Ich halte die Argumentation von Doole für plausibel. Er analysiert auch sehr genau, wie sich das Motiv des „Propheten ohne festen Wohnsitz“ in der Tradition allmählich verfestigte: bei Markus ist noch häufig unbefangen von einem „Haus“ die Rede, bei dem gut eine Generation später entstandenen Johannes-Evangelium ist die Obdachlosigkeit Jesu auf Erden schon stark theologisch gefärbt. Doole macht das Bild von Jesus einfach insgesamt eine Spur realistischer: auch ein „Menschensohn“, der ärmer ist als die Füchse, kommt aus Verhältnissen. Und die von Jesus waren jedenfalls so, dass seine Entscheidung für Armut und Gottvertrauen einen Unterschied machte. Er gab etwas auf, und seine Jünger auch, aber sie brachen nicht alle Brücken ab.

So konnte auch die Familie, die er hinter sich gelassen hatte, nach seinem Tod noch eine große Rolle spielen, und Petrus später mit seiner Frau auf Missionsreise gehen. Über das Mahl in Kafarnaum mit den vielen Zöllnern und Sündern würde ich auf jeden Fall gern mehr erfahren, aber da bleibt nur die Vorstellungskraft: die Sprache der Bibel ist oft karg, und eine Meldeadresse gab es damals noch nicht.

Hier der Link zu dem Aufsatz (in englischer Sprache) in der Zeitschrift Protokolle zur Bibel

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