Der Verräter

Judas Iscariot rechts, © Carl Bloch

Über Judas Ischariot hat die Geschichte das Urteil gefällt: Er war der Jünger, der Jesus verraten hat. Und er hat dafür bezahlt. Über sein Ende gibt es verschiedene Versionen, alle sind aber mehr oder weniger grässlich. Was die Bibel über Judas erzählt, sollte man alles eher skeptisch lesen: auf einen historischen Kern an der Judas-Geschichte wird man sich nicht so schnell einigen können. Umso stärker ist das Bedürfnis, genauer zu verstehen, was es mit dem „Verrat“ oder der „Überlieferung“ auf sich hatte.

Eine besonders originelle Deutung habe ich in einem Text des Psychoanalytikers Theodor Reik aus dem Jahr 1923 gefunden: Judas hat nie gelebt, sondern er ist eine Projektion. Judas ist so etwas wie ein verdrängter Aspekt der Figur Jesus. Beide sind „keine wirklichen Personen, sondern mythische Bildungen“.

Reik war einer der Schüler von Sigmund Freud. Er hat sich besonders häufig mit Religionsfragen beschäftigt, und er hat das mit dem ganzen Selbstbewusstsein getan, mit dem die junge Psychoanalyse an kulturelle Tatsachen heranging. Wenn die Bibel von Menschen wie Jesus oder Judas spricht, dann sind das für Reik vor allem „Personifikationen von Triebregungen, Wünschen und Impulsen des hellenisierten jüdischen Volkes“. Dass es eine Figur wie Jesus auch tatsächlich gegeben haben könnte, hält er immerhin für möglich, aber wenn, dass war das ein Ketzer, der weit vor dem Christuszeitalter gelebt hätte.

Judas aber hält er vollständig für eine Erfindung. Sie wurde notwendig, weil Jesus etwas getan hat, was weder das Judentum noch das Christentum so richtig akzeptieren konnten: er empörte sich gegen den Vatergott Jahwe. Reik spricht von einem „Sohnesputsch“: Jesus tötete den Vatergott, und trat an seine Stelle. Da passt allerdings etwas nicht, denn Jesus wurde ja selbst getötet. Hier hilft die Fähigkeit der Psychoanalyse, immer hinter die vorgeblichen Tatsachen zu schauen: Jesus und Jahwe sind wiederum auch nur Aspekte einer Gestalt, nämlich des Vatergottes, den die Juden töteten, indem sie Jesus töteten.

Judas vertritt in der ganzen Sache dann das schlechte Gewissen der Christen, die sich schuldig fühlten, weil sie Jahwe beseitigt hatten. Der Verräter muss dafür bezahlen, dass er diesen Mord möglich gemacht hat. Im Hintergrund steht dabei immer die Konstellation der Familie: der Sohn muss irgendwann an die Stelle des Vaters treten, und darf sich dabei nicht eingestehen, dass er bei dieser Ablösung auch böse Gedanken hat, die bis zu dem Wunsch gehen, den Vater zu töten. Das hat bekanntlich Ödipus getan, und zwar unbewusst.

Vor dem souveränen Durchblick, mit dem Reik die komplizierte Ablösung des Christentums vom Judentums ordnet, tun alle immer das Gegenteil dessen, worum es ihnen eigentlich geht: „das Judentum wirft den Christen vor, gegen Jahwe gefrevelt zu haben, eine Tendenz, die es selbst hegt; das Christentum will es den Juden nicht verzeihen, daß sie an Christus gefrevelt haben - Wünsche, die es selbst fühlt“ (weil auch die Christen zugleich Juden sind, also gegen den Vatergott aufgegehren). Das Christentum wurde auf diese Weise zum „konservierenden Element der jüdischen Religion“, schreibt der Jude Reik.

Judas ist dabei gewissermaßen der erzählerische Preis, den die Evangelisten bezahlen (erfinden) müssen, um das Bild von Jesus zu vereinfachen. Damit lösten sie die Jesusgeschichte auch aus dem Judentum heraus: „als das Judentum seinen Sohnesputsch beendet hatte, wurde der leidende Christus, das Bild der gequälten Nation, zum Idol der Christen, die Juden aber zum Urbild rachsüchtiger Gottesmörder“, schreibt Reik. Und er ordnet dann auch den christlichen Antisemitismus noch in sein Schema ein: „die Judenverfolgungen sind auch Wiederholungen jener revolutionären Tat gegen Jahwe und seine Bekenner, die beide trotz aller Mordversuche weiter gelebt haben, und bringen alle Lust der Wiederholung der Verbotsübertretung wieder; auf der anderen Seite aber werden alle Leiden von den Juden als Selbstbestrafung empfunden, da ihre masochistische Befriedigung aus der Bestrafung derselben ewigen Wünsche und Tendenzen quillt, die einst verdrängt wurden“. Judenverfolgungen und Pogrome sind „Selbstbestrafungen der Christen an anderen Objekt“.

Nach der Shoah haben diese Sätze einen anderen Klang bekommen. Reiks Text stammt aus einer Zeit, in der die Psychoanalyse noch stark mit Emanzipationsbemühungen verbunden war, die Judentum und Christentum gleichermaßen in den Blick der neuen aufklärerischen Macht nahmen, also überwinden wollten. Freud selbst hat später sein eigenes Judentum noch einmal tiefer reflektiert.

Von Reik entnehme ich besonders einen Gedanken: Judas ist eine Figur in der Bibel, in der vor allem etwas über Jesus erkennbar wird, was man sonst leichter übersehen könnte – Gewalt in der Gewaltlosigkeit, Umsturz in der Wehrlosigkeit.

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