Namen sorgen in der christlichen Bibel häufig für Verwirrung. Das liegt daran, dass damals viele Menschen die gleichen Namen trugen. Besonders Simon (Symeon), Jakob (Jaakow) oder Maria (Mariam) waren sehr gebräuchlich, aber auch der Name Jesus war nicht selten. Es gibt mehrere Stellen, an denen man genau aufpassen muss, von welcher Maria gerade die Rede ist.
Es gibt aber auch Stellen, an denen Namen fehlen, und zwar so, dass es auffällt. Eine der wichtigsten findet sich im Markus-Evangelium in der Erzählung der Verhaftung Jesu. Nach dem Mahl mit den Jüngern hat Jesus im Garten Gethsemane gebetet. Nun kommt eine Schar von Männern, die ihn mitnehmen und zu den Hohepriestern bringen sollen. In Mk 14,47 heißt es dann nach dem Judas-Kuss: Einer von denen, die dabeistanden, zog das Schwert, schlug auf den Diener des Hohepriesters ein und hieb ihm das Ohr ab.
Der Satz gibt mehrere Fragen auf. Wer waren die „Dabeistehenden“ (griechisch parestekóton)? Man würde eigentlich von zwei Gruppen ausgehen. Die Jünger, und die „Schar“ mit den Schwerter und Knüppeln. Bei den Dabeistehenden würde man spontan eher an eine dritte Gruppe von (zufälligen) Zeugen denken, das wäre allerdings zu dieser späten Stunde und deutlich außerhalb der Stadt ungewöhnlich. Interessant ist auch, dass Markus bei dem Diener, der sein Ohr verliert, einen bestimmten Artikel verwendet: das Schwert trifft „den Diener“ (griechisch: tòn doulon), und nicht „einen Diener“.
Die Geschichte hat schon die ersten Christen beschäftigt. Das sieht man an der entsprechenden Version im Lukas-Evangelium. Dort findet sich ein erklärender Zusatz: "Als seine Begleiter merkten, was bevorstand, fragten sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?" Damit ist immerhin die Frage der „Dabeistehenden“ gelöst, allerdings ergeben sich daraus neue Komplikationen, denn man müsste dann ja annehmen, dass die Jünger Jesu bewaffnet waren, was ziemlich unwahrscheinlich ist. Bei Lukas ist es „einer von ihnen“, der „dem Diener des Hohepriesters“ (auch hier der bestimmte Artikel) das Ohr abschlägt, und Jesus fügt es ihm gleich wieder dran. Lukas fügt also noch ein Heilungswunder hinzu.
Das Johannes-Evangelium wird dann überraschend konkret und nennt nicht nur einen Namen, sondern gleich zwei: "Simon Petrus, der ein Schwert bei sich hatte, zog es, traf damit den Diener des Hohepriesters und hieb ihm das rechte Ohr ab; der Diener aber hieß Malchus." (Joh 18,10) Es sieht also so aus, als hätte Johannes am meisten über diese Begebenheit gewusst: er weiß sogar, dass es das rechte Ohr war, an dem ein Mann namens Malchus verletzt wurde. Dieses Detailwissen kommt deswegen ein bisschen unerwartet, weil das Johannes-Evangelium wahrscheinlich relativ spät entstanden ist, jedenfalls deutlich später als Markus. Allerdings gibt es viele Stellen, aus denen man schließen kann, dass Johannes auch über sehr altes Wissen um Jesus und die historischen Ereignisse verfügte.
Die Kirche hat sich irgendwann entschlossen, vier Evangelien als „kanonisch“, also als verbindlich zu betrachten. Dass sie sich vielfach widersprechen, wurde in der Aufklärung zu einem Grundmotiv der Bibelkritik: denn wäre alles perfekt aufeinander abgestimmt, hätten die Forscher viel weniger Hinweise auf die komplexe Entstehungsgeschichte dieser Texte. Die Szene mit Petrus und Malchus und die unterschiedlichen Darstellungen haben zahlreiche interessante Theorien hervorgebracht. Eine der überzeugendsten stammt von dem deutschen Exegeten Gerd Theißen, einem der wichtigsten Historiker der Jesusbewegung: Er ist der Meinung, dass Markus (also der Autor des Markus-Evangeliums) bewusst auf die Nennung des Schwertziehers verzichtet. Und zwar, um ihn zu schützen.
Theißen spricht von „Schutzanonymität“, und gewinnt aus dieser Vermutung ein Argument: wenn es damals, als Markus diesen Text schrieb, noch zu heiß war, Petrus oder einen anderen Jünger als den Schwertzieher zu nennen, dann waren die Gegner von damals wohl noch in der Nähe. Das Markus-Evangelium oder jedenfalls der Bericht über die letzten Tage von Jesus, den es enthält, wäre demnach im Kern schon relativ bald nach dem Todesjahr in Jerusalem verfasst worden. Die Gemeinden mussten damals vorsichtig sein, sie lebten als Sekte inmitten von Juden. Das Johannes-Evangelium entstand viel später in einem anderen Umfeld, es konnte also unbefangener erzählen, oder aber es konnte Namen hinzuerfinden, wo sie ganz offensichtlich fehlten.
Bei Markus gibt es gleich nach der Stelle mit dem Schwertzieher übrigens noch eine Erwähnung, bei der man von „Schutzanonymität“ sprechen könnte: "Ein junger Mann aber, der nur mit einem leinenen Tuch bekleidet war, wollte ihm (dem verhafteten Jesus) nachfolgen. Da packten sie ihn; er aber ließ das Tuch fallen und lief nackt davon." (Mk 14,51f). Es gab also in der Jerusalemer Urgemeinde vielleicht jemand, von dem diese peinliche Begebenheit bekannt war. Hätte man seinen Namen genannt, man hätte ihn bloßgestellt.
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