In vino veritas

Ein Konkurrenzverhältnis: Jesus und Dionysos

Das Weinwunder, das Jesus bei der Hochzeit von Kana gewirkt hat, findet sich nur im Evangelium von Johannes. Es gilt als das jüngste der vier offiziellen Evangelien, und lange Zeit hielt man es auch für das am wenigsten historische: der Evangelist Johannes interessierte sich mehr für seine Deutung von Jesus und nicht so sehr für das, was tatsächlich während der Zeit seines Wirkens geschah. Dass Jesus Wasser in Wein verwandelt haben soll, wird also meistens als eine erfundene Begebenheit gelesen. So auch von dem berühmten Kommentator Rudolf Bultmann: das Wunder sei „aus heidnischer Legende übernommen und auf Jesus übertragen“ worden. Die Verwandlung des Wassers in Wein sei „ein typisches Motiv der Dionysos-Legende“.

Damit wäre Jesus ein neuer Dionysos. Um das plausibel zu finden, müsste man aber zuerst einmal wissen, ob denn der Mythos von dem griechischen Gott Dionysos in der Gegend, aus der Jesus stammte, im 1. Jahrhundert verbreitet war. In einem Aufsatz von Wilfried Eisele habe ich dazu alles Wesentliche gefunden. Der derzeit in Tübingen lehrende Theologe verortet die Kana-Geschichte in einem geographischen Feld, das durch die Orte Nazareth, Sepphoris, Kana und Skythopolis abgesteckt wird. Jesus kam aus Nazareth, in der Kana-Geschichte spielt ausdrücklich seine Familie eine Rolle, seine Mutter und seine Brüder sind zugegen. Sepphoris war von Nazareth aus die nächst gelegene größere griechische Stadt. Und Skythopolis gehörte zwar zu einer anderen Verwaltungseinheit (der Dekapolis), lag aber westlich des Jordan in Untergaliläa und gehörte somit zur engeren Lebenswelt von Jesus.

Eisele kann deutlich machen, dass Dionysos-Verehrung in den ersten Jahrzehnten nach dem Tod von Jesus in dieser Gegend in jedem Fall eine bedeutende Rolle spielte. Zwar stammt ein bedeutendes Dionysos-Mosaik aus Sepphoris aus einer späteren Periode, aber die Münzen aus dem 1. Jahrhundert lassen eindeutig erkennen, dass Dionysos damals sehr geläufig war. Für die Stadt Skythopolis kommt dann noch ein wichtiger Aspekt hinzu: Sie hieß ursprünglich Nysa. Dieser Name ist wiederum zentral mit der Dionysos-Mythologie verbunden, denn so hieß die Amme des Gottes. Damit wird die Stadt Nysa zu dem Ort, an dem Dionysos groß wurde, so wie Jesus in Nazaret. Die beiden sind also quasi Nachbarn.

Eisele beschäftigt sich nicht im Detail damit, unter welchen Umständen das Johannes-Evangelium entstanden ist. Er folgt der geläufigen Theorie, dass der Verfasser eine Vorlage verwendete, die man als Semeia-Quelle bezeichnet, also als Zeichen-Quelle, eine Zusammenstellung von Wundern und Zeichenhandlungen Jesu. Auch die Kana-Geschichte würde aus dieser Quelle stammen. Ob sie auf einer konkreten Erinnerung an eine Begebenheit aus dem Leben von Jesus beruht, lässt sich nicht sicher entscheiden, ist aber auch keineswegs auszuschließen.

Ihren theologischen Ort aber bekommt die Geschichte durch die Konkurrenz zwischen Jesus und Dionysos, oder genauer: zwischen den Menschen, die an die Auferstehung Jesu glaubten, und den Menschen, deren Riten von den Geschichten um Dionysos inspiriert waren. In diesen Riten spielte der Wein eine große Rolle. Dionysos brachte der Welt den Wein, und Jesus übernimmt mit dem Wunder von Kana diese Rolle. Der Verfasser dieser Geschichte machte also Marketing: Seine Zielgruppe waren Menschen, die bisher bei Wein an Dionysos dachten, und die künftig bei Wein an Jesus (und an das Mahl mit Brot und Wein) denken sollten.

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