Mein Bund an eurem Fleisch

Was macht einen Menschen jüdisch? Die Antwort auf diese Frage ist weniger einfach, als es auf den ersten Blick scheint. Natürlich gibt es klare Kriterien: Geburt von einer jüdischen Mutter vor allem, bei einem jüdischen Vater ist die Sache schon ein bisschen umstritten. Männliche Juden sind in der Regel beschnitten, aber nicht alle beschnittenen Männer sind Juden. Die Beschneidung ist allerdings ein sehr wesentliches Unterscheidungsmerkmal, übrigens auch für Antisemiten, wie man zum Beispiel dem Film Hitlerjunge Salomon von Agnieszka Holland entnehmen kann: ein jüdischer Junge tut so, als wäre er NS-Eliteschüler, bangt aber die ganze Zeit vor einer Enthüllung des verräterischen Merkmals an seinem Glied.

Jesus wurde acht Tage nach seiner Geburt beschnitten – so war das üblich bei einem jüdischen Jungen. Viele Jahrhunderte lang feierte die katholische Kirche am 1. Januar das Fest der Beschneidung des Herrn (Circumcisio Domini). Das Zweite Vatikanische Konzil hat diesen Termin abgeschafft, und stattdessen ein Hochfest der Gottesmutter Maria an diesen Termin gesetzt. Eine starke Akzentverschiebung, die umso eigentümlicher ist, als dem Konzil ja deutlich an einer Verbesserung der Beziehung zwischen Christen und Juden gelegen war (die Erklärung Nostra Aetate widmete sich einer Aufarbeitung des christlichen Antijudaismus).

Jesus war Jude. Die abendländischen Traditionen haben das lange Zeit eher verdrängt oder vergessen. Jesus stand als Jude am Ursprung einer Religion, die sich aus ihrem Unterschied zum Judentum definierte – häufig wurde dieser Unterschied mit Motiven belegt, die man heute als antijudaistisch begreift, die auch im modernen Antisemitismus immer noch kursieren (Juden als Christusmörder).

Die Beschneidung ist in diesem Zusammenhang deswegen ein zentraler Topos, weil sie am Ursprung des Volkes Israel steht: Abraham wird von Gott als Erz- oder Stammvater eines Volkes erwählt, dem er ein Land zuweist (Kanaan), ein Gesetz (das allerdings erst später durch Mose mitgeteilt wurde), und ein Merkmal. Abraham, kinderlos bis in ein hohes Alter, wird eine große Nachkommenschaft versprochen (er bekommt eine Mehrungsverheißung, so der Bibelwissenschaftler Georg Braulik), und alle, die von ihm abstammen, sollen sich an der Vorhaut beschneiden lassen. „Mein Bund an eurem Fleisch“, heißt es in der Genesis. Die (fehlende) Vorhaut ist ein körperliches Merkmal, aber auch ein Bundeszeichen.

Allerdings sollen auch Sklaven beschnitten werden, die de facto zur Familie gehören, aber nicht von Abraham abstammen, also nicht in den Bund gehören: Warum braucht es für sie das Merkmal? Man sieht schon, dass hier nicht alles genau aufgeht. Eine «gewisse konzeptionelle Inkongruenz», so hat es ein Theologe formuliert.

Die ersten Christen war zuerst einmal eine jüdische Gruppe in Jerusalem. Sie hielten sich weiterhin an die Tora mit ihren Speisegeboten und der Beschneidung (Mila) als zentralem Gebot. Kompliziert (und epochal) wurde die Sache in dem Moment, als Menschen an die Auferstehung Jesu zu glauben begannen, die aus Sicht der Juden als Heiden galten. Also Menschen aus der hellenistischen Kultur, von der damals der kulturelle Raum zwischen Mesopotamien und Imperium Romanum bestimmt war. Der Jude Saulus/Paulus, der sich nach einer Vision zum Jesus-Missionar berufen sah, wandte sich besonders diesen Gruppen zu, und wurde damit zum Begründer der Religion, die wir heute als Christentum kennen: eine Weltreligion, in der Volksbezüge keine relevante Rolle mehr spielen.

Sollten diese sogenannten Heidenchristen sich nun auch beschneiden lassen? Darüber wurde in den ersten Jahrzehnten nach dem Tod Jesu leidenschaftlich gestritten, und Paulus, der in Antiochien seine Basis hatte, setzte sich mit seinem Standpunkt durch. Neue Christen, die nicht aus dem Judentum kamen, mussten sich nicht beschneiden lassen. Damit war aber erst recht zu klären, in welchem Verhältnis die christlichen Gemeinden nun zum jüdischen JHWH-Bund standen? Galt die Abraham-Verheißung noch? Für wen? Hier tauchen Konzepte auf, die bis heute im Sprachgebrauch präsent sind, meist unhinterfragt: altes Israel und neues Israel, Altes Testament und Neues Testament.

Paulus findet dafür in seinen Briefen (den ältesten Dokumenten des Christentums) unterschiedliche Akzente. Im Galaterbrief schreibt er über Verfechter des jüdischen Rituals: «Sollen sie sich doch verschneiden (apokophontai) lassen, die euch aufhetzen.» Verschneidung (also Kastration) statt Beschneidung, das ist pure Polemik. Im Römerbrief hingegen bezeichnet er Jesus sogar als «Diener der Beschneidung», überholt ist das Judentum damit erst, wenn die Geschichte zu Ende ist, also wenn der Messias kommt, der für die Christen allerdings (auch) schon da ist (war). Man sieht, im Verhältnis des alten Bundes (Beschneidung, Gesetz) zum neuen Bund (christliche Taufe, Gnade, Freiheit) steckt viel Paradoxes oder Widersprüchliches, wenn man die jüdische Religion nicht einfach als überholt abtun will. Diese (zu) einfache Lösung galt jedoch für die längste Zeit der letzten beiden Jahrtausende.

In dem Herder-Band zur Beschneidung Jesu ist für mich neben den beiden bibelwissenschaftlichen Texten von Georg Braulik und Michael Theobald vor allem noch ein geschichtspolitischer Aufsatz von Daniel Krochmalnik bedeutsam: Mila und Shoah. Mila ist der jüdische Begriff für das Ritual der Beschneidung. Krochmalnik geht von dem Umstand aus, dass es in Deutschland 2012 eine Debatte darüber gab, ob die Beschneidung von Kindern zulässig sein kann. (Übrigens lassen auch die meisten Muslime in Deutschland ihre  neugeborenen Söhne beschneiden.) Krochmalnik sieht in dieser vorgeblichen Fürsorge ein altes Muster, das gegen Symbole des Jüdischseins gerichtet ist. Er führt dann Beispiele dafür an, wie Juden während der Shoah besonders (in einem Fall in letzter Sekunde vor der Ermordung) auf einer Beschneidung bestanden, als Zeichen eines Gottesbundes, in dem sie in ihren Sterben aufgehoben sein wollten.

Im Prozess der Assimilierung, in dem viele Juden in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert ein neues Verhältnis zu den religiösen Regeln suchten (viele nahmen von der Religion Abstand, viele ließen sich christlich taufen), wurde die Beschneidung auch zunehmend in Frage gestellt. Die Assimilierung kam aber nicht zu dem einen denkbaren Ergebnis (der Auflösung des Judentums als Gemeinschaft in weltanschaulich neutraler deutscher Staatsbürgerschaft), im Gegenteil wissen wir, dass im 19. Jahrhundert der Antisemitismus wieder stark zunahm. Krochmalnik spitzt schließlich zu: «Warum wurde denn ausgerechnet das assimilationsfreudigste Judentum zum Ziel der schlimmsten Vernichtungsorgie aller Zeiten?» Und er folgert, dass gerade wegen der Shoah es heute umso wichtiger für Juden ist, beschnitten zu sein: «durch das Blut der Märtyrer der Shoah hat die Beschneidung noch einen zusätzlichen Verpflichtungsgrund».

In der Katholischen Kirche gibt es Bestrebungen, den Feiertag Circumcisio Domini (Fest der Beschneidung des Herrn) wieder einzuführen. Er würde die Christen nicht nur an den Jüdischen Bund erinnern, in dem sie immer noch stehen, sondern hervorheben, dass das, was die Gläubigen Heilsgeschichte nennen, eine enorm verschlungene Konstruktion ist.

Jan-Heiner Tück (Hg.): Die Beschneidung Jesu. Was sie Christen und Juden heute bedeutet, Herder 2020

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